Reich Gottes?: Das «Reich Gottes» im Christentum und im Judentum beschreibt den Ort und den Moment, in dem sich die Kraft des Göttlichen durchsetzt: Die Befreiung von Herrschaft und Gewalt, eine umstürzende Verwandlung, die alles Böse überwindet und Leid beendet. In linkem Vokabular könnte eine_r auch Revolution sagen… Und ganz ähnlich wie mit den linken Vorstellungen von Revolution, waren es in Bezug auf das «Reich Gottes» auch Feminist_innen, die betont haben, dass dieser Umsturz etwas ganz Alltägliches, Privates, ja ganz Profanes und Häusliches sein kann und sein muss. Und vorallem, dass die Veränderung im Hier und Jetzt beginnen muss, stetig, in kleinen und beharrlichen Schritten und nicht auf ein Jenseits, einen postrevolutionären Zustand vertagt werden kann. Wenn auch das «Reich Gottes» insbesondere begrifflich sperrig, reaktionär, ja sogar irgendwie bedrohlich anmutet und dabei den ganzen Ballast der christlichen Gewaltgeschichte mit sich trägt, so liegt unter dem Begriff eine religiös-spirituelle Hoffnung auf eine bessere, veränderte Weltordnung. Und diese ist zutiefst politisch.
Dass die queer_feministische Auseinandersetzung mit dem «Reich Gottes» mich gerade zum Tanz führt (und umgekehrt), ist überraschend – und gleichzeitig auch naheliegend.
Queer?: Als Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera in den späten 60er Jahren gegen die gewaltvollen homo- und transphoben Polizeirazzien in New York ums Überleben und für die Anerkennung ihrer Existenz- und Begehrensweisen kämpften, war der Begriff «queer» noch nicht in Mode. Er war ein Schimpfwort. Er markierte die Zugehörigkeit zu einer Gruppe Menschen, deren Leben nichts galt. Queere Menschen sind misfits, sind schwarz, sind trans*, sind pervers, nicht normal, sind queer.
Wie bin ich den queeren Aktivist_innen von damals verpflichtet, wenn ich mich heute «queer» nennen oder «queer» handeln will? Was beinhaltet dieser von Kapitalismus und Staat angeeignete Begriff heute? Und was hat er (vielleicht) mit der religiösen Vorstellung des «Reich Gottes» zu tun?
Es zieht mich zu dir hin. Du ziehst mich. Zu dir hin. In dich hinein und durch dich hindurch. Über mich hinaus. Und über dich. Ich auch, ich ziehe dich an, heran, herbei, manchmal als Erklärung, als Ausflucht, ziehe dich aus, ziehe dich an den Haaren herbei. Du durchziehst die Rhythmen meines Tanzes, ziehst an meinen Bändern und Sehnen, an meinen Bildern und Lauten, ziehst mich mit, bisweilen unpassend, störend. Wir ziehen aus, einander im Schlepptau, angezogen, losgezogen, los. Ungebrochen, ununterbrochen, ausgezehrt, hingezogen.
Queering timeline: Vor 27 Jahren starb mein Vater durch die Folgen einer HIV-Infizierung. In der Schweiz wird heute wenig davon gesprochen, wie die Drogenpolitik der 80er Jahre den Zugang zu sauberen Spritzen erschwerte und damit die Zahl der Ansteckungen in die Höhe trieb. Dass ich heute lesbisch lebe und Teil eines schwullesbischen Aktivismus bin, verbindet mich auf seltsame Weise mit meinem Vater: Die gesellschaftliche Ächtung, die insbesondere Drogenabhängige, Sexarbeitende und schwule Männer (nicht nur) damals traf, und die unzähligen Verluste durch die Krankheit AIDS, wirken als kollektives Trauma ins Heute der schwullesbisch_queeren Community. Irgendwie sind wir verwandt, mein Vater und ich. Die Linien der kollektiven und der individuellen Trauer überschneiden sich in meinem Alltag. Ausgehend von diesen Momenten der Trauer und von ihnen angetrieben, überschneiden sich damit vielleicht auch das Begehren nach zwei Räumen: Den einen hätte meine Grossmutter den «Himmel» genannt, jenen Ort, wo sie ihren verstorbenen Mann wiedersehen würde – und ich meinen Vater – ein Reich Gottes im Jenseits. Und der andere Raum ist das undefinierte, unbestimmte Ziel meiner queeren Kämpfe, die politische Utopie, eine bessere Welt, das Ende der Gewalt – ein Reich Gottes im Diesseits.
Wenn es mich zu dir zieht, dann weiss ich nie, wohin es mich zieht. Wer du bist und wer ich bin und welche Verbindungen diese Bindung weiter eröffnet, woran ich anknüpfe, wenn ich mich an dich anknüpfe, andocke, Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte, mein Gewicht über dein Gewicht rolle und mich von der Wärme deines Körpers leiten lasse. Welche Geschichten sich aus der Berührung heraus erzählen lassen. Welche Geschichten du in die Berührung hinein trägst. Welche Geschichte dein Körper im Tanz erzählt. Welche Richtungen wir einschlagen, welche Geschwindigkeiten wir wählen. Wie unsere Körper uns durch den Raum und die Zeit lotsen, wissen wir jetzt noch nicht, und jetzt, und jetzt.
Queering kinship: Im Oktober erscheint das Buch «Nicht nur Mütter waren schwanger». Das Buch versammelt oft überhörte Geschichten rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft und Eltern-Sein. Ich freue mich, kann ich darin lesen: über die Erfahrungen von Trans*Männern während der Schwangerschaft, oder von der Entscheidung mehrerer Menschen, gemeinsam ein Kind grosszuziehen, oder von unerfülltem lesbischem Kinderwunsch. Im Oktober ist auch der Geburtstermin des Kindes meiner Partnerin und ihrer Frau. Nicht zuletzt deshalb brauche ich das Buch. Damit sich meine Augen und mein Herz für ungewohnte und vielleicht irritierende Formen von Verwandtschaftlichkeit öffnen. Verwandt-sein, making-kin ist so vieles: Der Moment, wenn ich nach dem Urlaub wieder nach Hause in meine WG komme und die Kinder meiner Mitbewohner_innen mir voller Begeisterung die verpuppten Raupen im Glas zeigen. Wenn ich der Frau meiner Partnerin eine Tonaufnahme meiner Stimme nach Berlin sende, damit das Baby in ihrem Bauch schon mal meine Stimme kennenlernt. Wenn meine Pflegeeltern mit mir auf die Rigi fahren und wir uns so verwandtschaftlich gut kennen (und entsprechend streiten können) und uns gleichzeitig für einander freundschaftlich entschieden haben. Darin steckt für mich eine ganz alltägliche queere Normalität des «Reich Gottes»: Dynamische Lebenskraft, die ihre eigenen, ungewohnten Wege findet. Die an den Rändern und im Dazwischen Verwandtschaftlichkeit stiftet.
Der Fluss stockt, ich falle, plumpse unsanft, ungebremst, ein Gelenk knackt, Gliedmassen sind verhakt, Gewicht bremst, Geschichte lähmt. Das Bild war zu konkret, zu ausgemalt, zu definiert. Ich wünsche mich zurück in die Einfachheit und Klarheit der vermeintlichen Kontrolle, in die Sicherheit der Abläufe und der Linearität. Auf A folgt B und ich weiss den Weg. Trotz und Trauer. Stagnation. Angeschubst und umgefallen. Anstoss. Rückwärts denken, neu-besetzen, vorwärts erinnern. Danke Marsha. Danke Silvia. Bruch und weiter.
Queering bodies and desire: Wenn ich tanze, leitet mich ein Begehren. Damit meine ich nicht konkretes, sexuelles Verlangen. Ein queeres Verständnis von Begehren betont dessen soziale und politische Dimension. Und auch die intime, subjektive Dimension des Sozialen und Politischen. Das Begehren bewegt mich durch den Raum, auf andere Körper zu oder von ihnen weg. Ich begehre den anderen Körper, die Begegnung, die Andersheit der_des Anderen. Wen ich warum und wie begehre, ist mitbestimmt durch sozial Erlerntes, durch Konditionierung, durch inkorporierte Machtstrukturen. Sofort ziehe ich Schlüsse und ordne ein: In die Binarität der Geschlechter, in die Logik der Heterosexualität, in die Bewertungsraster von Attraktivität und körperlicher Leistungsfähigkeit – oder eben aus. Ich konstruiere mich als Subjekt und dich als Objekt meiner Begierde. Sofort handle ich im Rahmen meiner eigenen sozialen Verortung und beanspruche Raum und Relevanz für meinen weissen Körper. Gleichzeitig ist mein Begehren nicht vollständig von diesen Machtstrukturen bestimmt: Vielmehr vermag es Bilder zu produzieren und aufzuladen, Phantasien zu bilden. Und diese lassen sich beeinflussen, reflektieren, verändern, kreativ «visionieren». In der Begegnung taste ich mich an ein Verständnis dieser Körper heran, ohne sie letztlich einordnen zu können oder zu müssen: männlich, dick, beweglich, weiss… Die Allgemeinheit sozialer Kategorien bricht da und dort auf und übersetzt sich in Singularitäten, in Überraschung. Die vermeintliche Stabilität von Geschlechtern, sexuellen Identitäten, Körperformen und Grenzziehungen gerät ins Wanken, in Bewegung.
Was wir finden, wenn unsere Körper sich zufällig finden, lässt sich nicht halten, nicht hier und jetzt. Ohne dich zu verstehen und ohne mich zu verstehen, haben wir diesen Moment, diese gemeinsame Bewegung, diesen Tanz. Wir schwitzen, wir atmen, wir lachen, wir rollen über den Boden und übereinander. Immer wenn ich dich finde, dann lasse ich dich gleichzeitig los. Arm für Arm, Rückgrat für Rückgrat, Becken für Becken, Schoss für Schoss etwas tiefer fallen, verschenken, hin-schenken, ent-lenken, los-denken. Damit ich finde, ankomme, weiterkomme, will ich weniger wollen, mehr lassen.
Begehren ist Bewegung, ist Kraft, transformatorische, aber sicherlich auch konservative. Queeres Begehren ist ein Wünschen, offen auf die Zukunft hin. Mein Begehren braucht das Reich Gottes in den Bildern, den Fantasien, den Visionen. Das Reich Gottes braucht mein Begehren als kontinuierliche Einladung zur Veränderung. Und dieses Begehren braucht die irritierende Ver-queerung, um immer wieder offen für unbestimmte Zukünftigkeiten zu sein.
Der Text erschien in gekürzter Version in der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA.
Image from a performance by Sarah Beth Oppenheim at Ponderosa, Stolzenhagen in 2015, presented as part of the P.O.R.C.H. program.