top of page
  • Diana Thielen

Tanz mit dem Unerwarteten- Contact Improvisation und (Poly*-)Beziehungen


pic by Tom O'Doherty

An meine erste Begegnung mit der Tanzform Contact Improvisation erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber an die Gefühle, die mich bis heute begleiten, wenn irgendwo Contact getanzt wird: Faszination für die scheinbare Mühelosigkeit der Tanzenden, tiefes Berührt-sein von ihrem Mut und der je individuellen Schönheit - und auch eine gute Portion Schüchternheit und Angst davor, mich in die Nähe und das Unvorhersehbare hinein zu wagen. Contact Improvisation lässt mich darüber nachdenken, wie in dieses Gesellschaft Beziehung, Kontakt und Bezugnahme möglich und wünschenswert sind. Einige Überlegungen dazu habe ich im folgenden Text versucht zu teilen.

Contact Improvisation, kurz CI, als zeitgenössische Tanzform, wie ich sie kennengelernt habe, besteht wesentlich darin, zu zweit (oder mit mehreren oder in der ganzen Gruppe), bewegend einem Körper-Kontaktpunkt zu folgen. Diese Berührung kann eine ganz kleine sein, mit nur je einem Finger zum Beispiel. Oder sie kann auch grösser sein, vielleicht flächig oder auch Gewichtsaustausch beinhalten. Und sie kann sich auch zeitweise lösen, ohne dass sich dafür die Tanzenden aus dem Duett verabschieden müssen, es aber natürlich können.

Ausgehend vom Berührungspunkt improvisieren die Tanzenden mit Elementen von Fallen, Rollen, Gewicht und Gegengewicht, Schwung, Heben/Aufschwung («lift»), aber auch mit Atemtechniken, achtsamer Körperkommunikation und Raumwahrnehmung. Was im jeweiligen Kontakt entsteht, ist im besten Fall überraschend und getragen von Vertrauen.

In vielen grösseren Städten gibt es kostengünstige Contact Jams (freies Improvisieren) oder Labs (forschendes Improvisieren), ganze Festivals oder auch Kollektive und Netzwerke, die CI kritisch politisieren (z.B. radical contact [1] oder in den 1990er Jahren im Umfeld des 848 Community Space [2]). In der Zeitschrift Contact Quarterly wird die Tanzform seit ihrer Entstehung theoretisch oder literarisch reflektiert. 1972 von Steve Paxton initiiert, entwickelt sich die Tanzform laufend weiter. Die Contact Improvisation und die weltweite Contact-Szene verstehen sich, so meine Wahrnehmung, durchaus als «Alternative» innerhalb des zeitgenössischen Tanzes: Freier, demokratisch und avantgardistisch – so ist häufig (manchmal eher implizit) das Selbstverständnis. Nicht zuletzt dieses Selbstverständnis macht es manchmal schwierig, das Geschehen in der Contact-Szene oder an einer einzelnen Jam queer_feministisch zu kritisieren[3].

Traditionelle Überzeugungen, wie beispielsweise die First Rule, die «erste Regel» - Du bist für dich selber verantwortlich/ take care of yourself – sind aus einer privilegierten Position heraus formuliert, verhindern Übergriffe nicht, sind nicht niederschwellig und öffnen die Türen zu victim blaming (siehe Beaulieux: How the First Rule Brought #MeToo to Contact Improvisation. In: CQ 44).

Contact Improvisation als aussergewöhnlich nahe und intime[4] Tanzform, wirft die Frage auf, wie in einer Begegnung sexuelle, physische, emotionale und spirituelle Sicherheit in gemeinsamer Verantwortung hergestellt werden können (ebd.: S.46). Und auch, welche Tanzenden CI meiden, weil dort gerade diese Sicherheit für sie nicht gegeben ist. Contact Improvisation ist deshalb aufschlussreich über das gesellschaftliche Verständnis und die Praxen von In-Verbindung-treten, Beziehung, Körperkontakt, Sexualität und Begehren – mit all den darin enthaltenen patriarchalen und imperialen Mustern, Verwechslungen, Machtdynamiken und -missbräuchen. CI beinhaltet, optimistisch betrachtet, aber auch das Potential individuell und auch kollektiv neue Formen von Kontakt und Verbindung auf Augenhöhe zu erproben und auszuprobieren. Gerade weil es im Tanz nicht um eine sexuelle, erotische, stark emotionale Verbindung geht, der Körper und die Emotionalität aber das Vehikel des Erlebten sind, kann die Contact Improvisation als spielerisches Übungsfeld betrachtet werden. Insbesondere auch fürs Poly*Leben bieten sich in der Contact Improvisation einige Lern- und Experimentierfelder oder Inspirationen. Was ich unter Poly* verstehe, kann ich nicht definieren – mehr als das Führen mehrerer paralleler intimer Beziehungen im Wissen aller Beteiligte, meine ich damit eine bestimmte Beziehungshaltung und Aufrichtigkeit. Das wird im Folgenden noch deutlicher werden. Ich beziehe mich mit dem Begriff auch auf eine lesbisch-queer_feministisch geprägte Szene im deutschsprachigen Raum, die den Begriff für sich verwendet.

Zu Beginn einer Jam folgt oft nach dem Ankommen, individuellen Aufwärmen und dem «Bonding with the earth», also etwa Sich-im-Boden-verwurzeln, eine erste Phase des möglichen In-Kontakt-tretens mit den anderen Tanzenden (vgl. Nancy Stark Smiths Konzept des «Underscore»). Stark Smith nennt diese Phase «Grazing», also «Grasen». Dieses Grasen ist eine Möglichkeit, auf Menschen individuell zu zugehen und zu schauen, ob und wie sich ein Kontakt gestalten kann: Zusammenkommen, Berührung, Sich-beeinflussen, Abstossung, Anziehung, Resonanz, Kollision oder zufälliges Zusammengehen… Das kann spielerisch, absurd, intensiv, flüchtig, technisch, warm, distanziert, herausfordernd etc. sein. Auf jeden Fall aber ist es mit jeder Person anders, momenthaft und folgt nicht (m)einem vorgefertigten Plan. Dieses situative und individuelle Einlassen (und evt. wieder Loslassen), körperlich zu üben, tut gut.

Wenn sich aus dem Grazing dann mit einer oder mehreren Tanzenden ein längerer gemeinsamer Moment ergibt, kann daraus ein gemeinsamer Tanz entwickelt werden. Das erfordert ein physisches, mentales und emotionales Sich-einlassen und die Bereitschaft, etwas gemeinsam zu entwickeln. Die Fähigkeit, dabei sowohl mit sich selber, als auch dem/den Gegenüber(n), den Anderen im Raum und dem Raum selbst in Kontakt zu sein, ist eine grosse Herausforderung – und gleichzeitig eine Kernqualität von Beziehung. Die Tänzerin Nita Little spricht hier von Inquiry – was spüre ich Innen? – und Enquiry – was spüre ich Aussen?

Die Momente, wenn ein gemeinsamer Tanz fliesst, können inspirierende Erfahrungen von Verbindung ermöglichen: In der Gewichtsabgabe eine Leichtigkeit und Schwerelosigkeit entdecken; Bewegungen als intuitiv und fliessend erleben; Sich gleichzeitig gehalten und bewegt fühlen; Sich gegenseitig ein Gefühl des Fliegens ermöglichen; Loslassen dürfen und dabei leicht werden.

Dieser Flow im gemeinsamen Tanz, ist aus meiner Perspektive auch höchst politisch: Ein Moment in dem geschlechtlich codierte Bewegungsvokabulare überwunden, verkörperte Erinnerungen transformiert, soziale Subjektpositionen unwichtig, Queer/Butch-Femme/Feministisches Embodiment als bestärkend erlebt, neue Handlungsräume erfahrbar, und die Rollenverteilungen von «führen» und «folgen» fluide werden können. Auch können sich sonstige soziale Bezüge im Tanzraum verändern: Menschen, mit denen ich im Alltag in Konflikt stehe, können im Tanz zu harmonischen Partner_innen werden. Andere, mit denen ich sonst nah verbunden bin, bleiben mir im Tanz vielleicht eher fern.

Der gemeinsame Tanz stellt aber auch eine Reihe Fragen, um nicht zu sagen Probleme: Welches Tempo, welcher Nähegrad stimmt für mich, für mein(e) Gegenüber? Wie schaffe ich es, sorgsam mit meinem/deinem Körper und seinen Verletzlichkeiten umzugehen? Welche Geschichten tragen wir in den Tanz? Wie kann ich achtsam mit meinem/n Gegenüber(n) umgehen und ihre Kommunikation verstehen? Selten wird während einer Jam gesprochen und verbale Kommunikation gilt sogar etwas als «verpönt» - Wie ist es unter diesen Umständen möglich, Grenzen zu setzen? Wie lade ich mein Gegenüber ein, Grenzen zu kommunizieren? Wie können wir als gemeinsam tanzende unseren Raum im Raum definieren? Wie lerne ich mit körperlichen Begrenztheiten umzugehen, mich und mein(e) Gegenüber so zu akzeptieren, wie wir sind? Wie kann es gelingen, das Denken nicht völlig zu verabschieden, sondern fokussiert zu bündeln - und es gleichzeitig loszulassen?

Insbesondere das Ende eines gemeinsamen Tanzes, hat viel mit Beziehungsverhalten zu tun: Merke ich, wann es vorbei ist? Für mich oder das/die Gegenüber? Und wenn ich für mich merke, dass ich mich verabschieden möchte, gelingt es mir auch, das zu tun? Wie verabschiede ich mich dankbar und würdig (falls dies meiner Stimmung und dem Tanz entspricht)? Und wenn ich dann aus der engeren Bindung heraustrete und auf mich zurückgeworfen bin, halte ich das aus? Wie? Inwiefern bin ich meinen Tanzpartner_innen (noch) verpflichtet oder verbunden? (Wie) Pflegen wir weiter Kontakt? Sind Teil der Gruppe? Habe ich so etwas wie Besitzansprüche an die Personen, mit denen ich getanzt habe?

Oft gibt es in Jams auch Momente der Lücke. Nancy Stark Smith spricht von der «Gap». Diese kann geprägt sein, von Gedanken wie: Alle tanzen nur ich nicht; Alle sind glücklich/im Flow nur ich nicht; Überall wird im Duett getanzt und ich bin alleine. Gerade in solchen Lücken-Momenten können sich im Körper gespeicherte individuelle schmerzhafte Erfahrungen und kollektive, politische Strukturen und Unterdrückungserfahrungen zeigen. Wie gehe ich/wir mit solchen Lücken um? Der «Gap» ist ein unbekannter Raum, der subjektiv Unbehagen auslösen kann, aber auch die Möglichkeit bietet, dass das gewohnte (Bewegungs-)Muster unterwandert und mit der bekannten Ordnung gebrochen wird, dass der eigene «Habitus entgleist» (vgl. Wuttig 2016). Auch hier stellen sich viele Fragen, die mit Poly-Leben in Verbindung stehen: Welche Bezüge brauche ich, um mich sicher zu fühlen? Wie bewerte ich einzelne Bezüge – steht «im Duett tanzen» vor «Teil der Gruppe sein»? Oder ist «in Berührung sein» wichtiger als beispielsweise «spielerisch in Augenkontakt sein und rhythmisch Frage-Antwort auf den Boden klopfen»?

Am Abschluss ihres Konzeptes des Underscores spricht Nancy Stark Smith von «harvest», also von «ernten». Diese dankbare Form der Verarbeitung ist geprägt von einer Haltung, Positives mitzunehmen, sich Zeit zu nehmen, das Erlebte ruhen zu lassen, sich bewusst aus dem gemeinsamen Raum zu verabschieden, Übergänge ritualisiert zu gestalten – auch das kann hilfreich sein fürs Poly*Leben. «Geerntete» positive Erfahrungen können in eine nächste Jam, einen neuen Tanz und in den Alltag und meine Bezüge einfliessen – vielleicht ganz ohne, dass ich sie vollständig rational durchgearbeitet habe. Aber die Contact Improvisation hat mir dabei geholfen, sie körperlich zu erleben, sie zu verkörpern.

[1] https://radicalcontact.org

[2] http://tessawills.com/848-performance-sex-1990s-san-francisco-keith-hennessy/

[3] Danke an Diana Thielen für die Benennung dieser Problematik.

[4] Es ist mir wichtig zu sagen, dass diese Intimität nicht sexuell ist, auch wenn ich davon ausgehe, dass ungerichtete sexuelle Energie sich aus Bewegung und Kontakt nicht ausklammern lässt.

362 views

Recent Posts

See All
bottom of page